Was ist die gesellschaftliche Relevanz von Architektur? Diese immer wieder gestellte Frage wird im Zentrum Architektur Zürich ZAZ neu verhandelt. Architektur bedeutete nach Luigi Snozzi schon immer Zerstörung. Die Ausstellung „critical care - Architektur für einen Planeten in Krise“ stellt die Frage, wie sich in unserer Welt mit anhaltendem Gefälle zwischen arm und reich, mit zunehmenden Auswirkungen der Klimakatastrophe und der ungebremsten Kraft des Kapitals neue Möglichkeiten finden lassen, wie Architektur heilend anstatt zerstörerisch wirken könnte. Die Schau wurde 2019 vom Architekturzentrum Wien produziert und für Zürich leicht angepasst und erweitert.
Die Wiener Kuratorinnen Angelika Fitz und Elke Krasny sehen Architektur als kulturelle Praxis mit gesellschaftlicher Dimension. Gestützt auf die politische und feministische Care-Theorie stellen sie die These auf, dass es möglich ist, mit dem Mittel des Architekturprojekts für komplexe gesellschaftliche Fragestellungen Antworten finden. 21 Beispiele aus der ganzen Welt, alle im 21. Jahrhundert realisiert, zeigen, wie das funktionieren kann. Die Projekte sind in fünf verschiedene Kategorien eingeteilt, die je einen Fokus des care-Gedankens formulieren. In der Kategorie Wasser, Grund und Boden werden Projekte gezeigt, die diese Ressourcen ins Zentrum stellen, wie etwa die Revitalisierung eines antiken Bewässerungssystems und gleichzeitige Etablierung eines öffentlichen Gemeinschaftsgartens und Parks in der katalanischen Thermalstadt Caldes de Montbui. Um dieses Vorhaben anzustossen wurden vorab partizipative Prozesse mit den Kleingärtnern und der Stadtverwaltung angeschoben. Die Beteiligung verschiedener Akteure ist in den meisten der gezeigten Projekte zentral, durch aktives Mitdenken verschiedener Beteiligten werden sie breiter getragen und funktionieren langfristiger. Ganz andere Dimensionen hat das Projekt Mexus, das die ökologischen Auswirkungen der Grenze und des Grenzzauns zwischen Mexico und den USA auf die Wassersysteme untersucht. Eine zweite Kategorie bilden die Kenntnisse und Fähigkeiten, bei denen es meist um die Anwendung oder Adaption traditioneller, ressourcenschonender Techniken, beispielsweise verschiedene Lehmbauarten geht. Projekte in Pakistan, Bangladesh und Syrien zeigen, wie so die etablierte Bauwirtschaft umgangen werden kann, die hier wie dort mit Kapital und weniger arbeitsintensiven Techniken sowie mit CO2-intensiven Materialien wie Beton operiert, für grosse Schichten der Entwicklungsgesellschaften aber gar nicht bezahlbar und so oft weder ökologisch, sozial noch wirtschaftlich nachhaltig sind. Die Kategorie Produktion überschneidet sich teilweise mit Kenntnissen / Fähigkeiten und versammelt Ansätze, welche die Etablierung von Produktionsstätten als Katalysator des Zusammenlebens ins Zentrum der Konzepte stellt. Das können Recyclingwerkstätten in französischen Vorstädten oder eine Tofumanufaktur in einer strukturschwachen chinesischen Region sein. Ökologische Planungen – auch das ein gemeinsamer Nenner der gezeigten Projekte – schaffen einen zusätzlichen Mehrwert durch ihren Vorbildcharakter. Care for Repair versammelt Projekte, die bestehende, meist strukturbedingt brach liegende Gebäude in eine zukünftige Nutzung überführen. In dieser Kategorie werden zum Beispiel Lacaton & Vassals Transformation einer Wohnüberbauung in Bordeaux gezeigt oder die Umnutzung des jahrelang leerstehenden „Hauses der Statistik“ am Berliner Alexanderplatz in günstige Wohnungen. Sehr eindrücklich auch das Quartierzentrum SESC 24 de Mayo in Sao Paulo, für das Paulo Mendes da Rocha und MMBB Architects ein ehemaliges Möbelhaus aus den 80er-Jahren im verwahrlosten Stadtzentrum der Grossstadt zu einem vertikalen öffentlichen Raum mit Gemeinschaftseinrichtungen und einem ikonischen öffentlichen Pool auf der Dachterrasse umgebaut haben. Der öffentliche Raum als fünfter Fokus zeigt in London, Barcelona und Wien, wie durch klare Problemdefinition und Erkundung der Bedürfnisse der Bevölkerung öffentlicher Raum gestärkt werden kann. Im Beispiel der Superblocks in Barcelona werden das Lokalklima verbessert, die Luftbelastung vermindert und Nachbarschaften intensiviert.
Um die Aktualität der Themen in der Schweiz zu zeigen, hat das ZAZ in einem open call im November alle Interessierten aufgefordert, lokale Projekte für die Ausstellung einzureichen. In einer Jurierung wurden 22 Eingaben ausgewählt, die ebenfalls ausgestellt sind. Die Erweiterung der Wiener Ausstellung mit internationalem Fokus ist als Abgleich mit der hiesigen Realität wichtig, weil sich zeigt, dass sich viele Projekte und Initiativen mit ganz ähnlichen Themen beschäftigen. Sei es Re-Use, öffentlicher Raum, Aktivierung von bestehenden Strukturen oder partizipative Ansätze, alles ist vorhanden. Da die Beiträge als fertige Ausstellungsbeiträge eingegeben werden mussten, sind sie sehr dispers und teilweise schwierig zu lesen, zudem ist bei vielen Beiträgen die Autorschaft nur schwer eruierbar. Mit überschaubarem Aufwand hätten diese Beiträge noch etwas nachgebessert werden können. Dass mit dem Baubüro in situ, Denkstatt Sarl und Zirkular GmbH drei Eingaben aus dem Umfeld der Basler Pioniere Barbara Buser und Eric Honegger vertreten sind, zeugt von deren herausragenden Arbeit. Anstatt sie beim open call so zu bevorzugen, wäre es toll gewesen, ihnen einen eigenen Auftritt zu geben zum Thema alternative Denkmodelle sowohl betreffend Arealentwicklung als auch Re-Use.
Die Projekte bieten viel Stoff zum Nachdenken, sie zeigen das scheinbar grenzenlose Potenzial von Architektur und versammeln dazu spannende Projektansätze. Zudem wird das Berufsbild von ArchitektInnen hinterfragt, weil das Ausloten der klassischen Entwurfsparameter Ort, Funktion oder Struktur nur die eine Seite der Projekte ausmacht. Es geht auch um die Form der Aquisition, um die Selbstermächtigung, Themen aufzugreifen mit oder ohne Auftrag, oder um die Definition der Projektziele. Dass gute Architektur dabei herauskommen kann, zeigen die Projekte ebenfalls.